Zur Sache: Ein gefundenes Fressen

Die Wirtschaftskrise spitzt sich weltweit immer mehr zu und bewegt auch die Menschen in der Schweiz. Wenn die Volksseele kocht, ist das ein gefundenes Fressen für den Boulevard.

Die Wirtschaftskrise spitzt sich weltweit immer mehr zu und bewegt auch die Menschen in der Schweiz. Wenn die Volksseele kocht, ist das ein gefundenes Fressen für den Boulevard. Ein Boulevardmedium kann in einer solchen Situation verschiedene Dinge tun: Es kann die Empörung einfach am Kochen halten oder noch tüchtig Öl ins Feuer giessen, um den Volkszorn zusätzlich anzufachen. Ein weiteres probates Mittel ist, die Leser aufzufordern, sich direkt dazu zu äussern und ihnen die Möglichkeit zu geben, mittels Brief, Fax oder E-Mail ihrer Empörung Ausdruck zu geben oder sich mittels vorgedrucktem Brief direkt an die Angeschuldigten zu wenden. Dies soll via Redaktion geschehen, denn man will ja schliesslich die Fäden in den Händen behalten.
Der Blick spielt in diesen Tagen mit viel Genuss auf der ganzen Klaviatur. Mit immer neuen reisserischen Titeln wird die Geschichte ohne Ende weitergedreht. Da nicht anzunehmen ist, dass alle unsere Leser den Blick lesen, hier einige Müsterchen: «Boni zurück Herr Ospel», «Ospel abgetaucht – die Wut wächst», «Wann zahlen Sie Ihre Boni zurück, Herr Ospel?», «Geld her, Marcel!», «UBS und Boni – es darf gelacht werden», «Im Zimmer 235 musste Kurer kuschen».
Und es hagelt natürlich Leserbriefe. Volkes Stimme liebt es klar und deutlich. O-Ton aus der Gosse gefällig?: «Ab sofort gilt: Kronenhalle verboten. Für Sie ist nur noch McDonald‘s erlaubt», «Wenn Sie Ihre Boni nicht zurückzahlen, verfüttern wir Sie auf einer Krokodilfarm», «Ich sage nur: Pfui!» oder «Herr Ospel, Sie sind der Albtraum der Schweizer». Aus Wollerau, dem Wohnort von Ospel, tönt es: «Du bist eine Schande für unsere Gemeinde.» Ein anderer schreibt «Boni zurück oder auswandern».
Solch journalistisches Gebaren kann man als Kampagne bezeichnen. Blick-Chefredaktor Bernhard Weissberg sieht das anders. Für ihn ist die ganze Angelegenheit keine Kampagne, sondern – wie er in seinem «Scheff-Blog» vermeldet – eine «Aktion für den Anstand». Scheinheiliger geht es ja wohl nicht.
Warum nicht dazu stehen? Der Blick hat zu seinen Wurzeln zurückgefunden und zelebriert den klassischen Boulevardstil. Nichts mehr vom emanzipierten Boulevard, der von Ringier-Chefideologe Frank A. Meyer jahrelang propagiert und von allen nachgeplappert wurde und von dem keiner so richtig wusste, was das denn eigentlich sein sollte. Jetzt greift man wieder zum Zweihänder und reisst die unterste Schublade auf.
Aber ist es wirklich eine Abkehr von Frank A. Meyers Ideen eines zeitgemässen Boulevards? Im Stil vielleicht, aber sicher nicht in der Sache. Citoyen Meyer kann aus seiner Berliner Villa stolz auf seine Adepten blicken. Denn schliesslich geht es bei der aktuellen Schlammschlacht um den Kampf des Guten gegen das Böse. Um eine Aktion für mehr Anstand. Man hörts.
Pierre C. Meier, Chefredaktor
pc.meier@werbewoche.ch

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