Massenweise Gratis-E-Paper im Markt

Die Auflagenzahlen 2014 der WEMF zeigen: Die E-Paper der Zeitungen boomen. Erstaunlich aber: Der Gratis- oder Billigst-Anteil ist beträchtlich, häufig liegt er über 50%. Selbst grosse Titel haben ihn gegenüber 2013 verdoppelt oder verdreifacht, ein Verlag verteilt sogar 95-mal mehr Gratisexemplare. Die Verleger locken also mit Gratis-Abos, um zahlende Abonnenten zu gewinnen. Bisher ging die Rechnung aber nicht wirklich auf.

Als die WEMF am 1. Oktober die Auflagenzahlen 2014 publizierte, verschickte die NZZ sofort ein Communiqué, in dem sie ihre gestiegene Replica-Auflage (E-Paper) kommunizierte. Darin hiess es wörtlich: «Dank der gestiegenen Replica-Auflage konnte die Neue Zürcher Zeitung (Schweizer Ausgabe) den Rückgang im Print kompensieren: Mit einer verbreiteten Auflage von total 114 209 blieb sie praktisch stabil (–0,9%), der NZZ am Sonntag gelang sogar eine Steigerung um 2,5% auf 135›805.»

Die Hälfte der NZZ-Replicas sind gratis

Das Wort «kompensieren» lässt hier aufhorchen. Schliesslich ist es der Traum jedes Verlegers, die Verluste bei der (verkauften) Print-Auflage durch digitale Abos wettzumachen. Doch die WEMF-Zahlen zeigen, dass die meisten Verleger noch meilenweit davon entfernt sind. Gemäss WEMF verschenken viele Verleger derzeit einen grossen Teil ihrer E-Papers – auch die NZZ. Das weiss man an der Zürcher Falkenstrasse durchaus. So hatte NZZ-Verlags-Chef Steven Neubauer schon Mitte September gegenüber persoenlich.com darauf hingewiesen, dass ca. 25 Prozent der digitalen NZZ-Abos gratis abgeben werden. Das war allerdings etwas untertrieben. Effektiv gibt die NZZ 8489 E-Paper gratis oder um mindestens 80% vergünstigt (Billigst-Probeabos) ab, bei der NZZ am Sonntag (NZZaS) sind es gar 8879 Abos, insgesamt also 17 368. Das sind nicht 25% der digitalen Abos, sondern 51%. Wichtig: Ein derart hoher Anteil Gratis-oder Billigst-Abos ist weder verboten noch anrüchig, sondern absolut legitim und vielleicht auch marketingmässig clever. Wenn aber ein Pressetitel mehr als die Hälfte seiner (Digital-)Abos fast oder ganz gratis abgibt, dann ist es verwegen, von einer Kompensation zu sprechen. Selbst wenn die verbreitete Auflage dadurch stabil bleibt oder steigt. Eher lässt da ganz aus der Ferne der Fall TagesWoche grüssen (siehe Box).

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E-Paper-Abos wiegen Print-Verluste nicht auf

Von einer echten Kompensation kann jedenfalls erst dann die Rede sein, wenn die neu gewonnenen, bezahlten Digitalabos die Verluste bei den bezahlten Papierabos aufwiegen. Und das ist bei der NZZ nicht der Fall. Die beiden NZZ-Titel haben innert Jahresfrist insgesamt 12142 Print-Abos verloren, mit Rückgängen um –6% (NZZaS) und –7% (NZZ) finden sie sich denn auch unter den Top-Ten-Verlierern. In derselben Zeit haben sie jedoch «nur» 5461 zahlende Digitalabonnenten gewonnen.

Damit nicht genug: NZZ und NZZaS haben auch im Einzelverkauf weniger abgesetzt. Werktags gingen 460 bezahlte Exemplare weniger weg, sonntags sogar 1679 weniger. Total also ein Minus von 2139 Exemplaren. Diese sind zu den Printabo-Verlusten hinzuzuzählen, denn im digitalen Bereich bieten die NZZ-Titel bisher keinen EV an. Also setzen NZZ und NZZaS zusammen aktuell 14 281 verkaufte Printexemplare weniger ab als 2013. Dem stehen 5461 neu gewonnene zahlende E-Paper-Abonnenten gegenüber. Der Verlust wird also zu «bloss» 38% aufgewogen. Anders gesagt: Der NZZ-Traum von der Kompensation ist – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – geplatzt. (Leider.) Wenn wir schon bei der NZZ sind: Hier ist ein weiterer Aspekt interessant. Schon vor einem Jahr fiel auf, dass die «Alte Tante» und ihre Sonntagsausgabe viele Gratis-E-Paper abgaben – damals waren es 5782 Exemplare oder 34% der verbreiteten digitalen Auflage. Diese Gratisexemplare wurden seither verdreifacht (+300%) – auf die erwähnten 17 368 Exemplare, die neu 51% der gesamten digitalen Auflage ausmachen. Die Zahl der verkauften E-Paper nahm dagegen «bloss» um 48% oder 5395 Stück zu. Darunter sind allerdings nicht nur Neugewinne, sondern auch Abo- Umwandlungen. Die Frage stellt sich deshalb, ob diese Art Abomarketing, das die NZZ schon seit 2011 vorantreibt, wirklich nachhaltig und effizient ist.

Alle Zeitungen haben dasselbe Problem

Doch die NZZ steht damit keineswegs allein – was sie tut, ist mittlerweile Usus in der Branche, teilweise in noch ausgeprägterem Mass. Denn nahezu alle Titel haben dasselbe Grundproblem: Ihre verbreitete Auflage (Print und Digital zusammen) sinkt – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen. Dazu gehört neben der NZZaS auch das St. Galler Tagblatt (SGT), das um 16% zulegen konnte, weil es Anfang Jahr drei ehemalige Partner der Südostschweiz in sein Kopfblattsystem integrieren konnte. Auflagengewinner sind aber auch La Regione Ticino, die SonntagsZeitung und die Basellandschaftliche Zeitung bz (je 4%) sowie – in geringerem Mass – La Liberté, Walliser Bote und die Freiburger Nachrichten.

Der allgemeine Auflagenrückgang manifestiert sich – wie bei der NZZ – bei zwei Auflagekategorien: Bei den bezahlten Printabos und am Kiosk. Dabei ist die Verlust-Bandbreite gross: Den grössten Abo- Rückgang mit minus 32% weist die Ostschweiz am Sonntag aus (die Werbewoche berichtete, siehe WW 17/14), bei den Freiburger Nachrichten sinken die Abos bloss um 1%. Die anderen liegen dazwischen. Mit drei Ausnahmen: Zahlende Print-Abonnenten gewinnen konnten Le Matin Dimanche (9%), bz (6%) und SonntagsBlick (0,5%). Noch drastischer ist der Rückgang im Einzelverkauf (EV): Mit einem Minus von 90% büsste die TagesWoche am meisten ein, während die bz mit minus 2% am wenigsten verlor.

Immerhin vier Zeitungen konnten am Kiosk auch zulegen: Die Zürichsee-Zeitung vermochte sich um 21% zu steigern, der Zürcher Oberländer um 12%, das Bieler Tagblatt um 1% und die Nordwestschweiz um 0,1%. Um Letzteres zu veranschaulichen: Peter Wanners Zeitung hat im Durchschnitt zwei EV-Exemplare pro Tag mehr verkauft als vor einem Jahr.

Digitale Auflage um das x-Fache erhöht

Ganz anders präsentiert sich die Situation im digitalen Bereich: Wie bei der NZZ herrscht hier offenbar Aufbruchsstimmung – fast überall steigen die E-Paper- Auflagen. NZZ und NZZaS sind mit 18 199 und 15 803 verbreiteten E-Paper-Exemplaren zwar Marktführer, es ist aber die Neue Luzerner Zeitung (NLZ), die im letzten Jahr am deutlichsten zulegen konnte – von ehemals 222 auf neu 2498 E-Papers. Eine Steigerung um mehr als das Zehnfache! Die zugehörige Zentralschweiz am Sonntag (ZaS) liegt auf Platz 2, sie steigerte sich um den Faktor 7 auf 1760 E-Papers. Bronze erhält das SGT, das seine digitale Auflage auf 2623 Replicas verfünffachen konnte. Rang 4 belegen die Schaffhauser Nachrichten, deren digitale Auflage um 442% auf 667 Replicas anwuchs. Die übrigen Titel unter den Top Ten: Zürcher Unterländer (+186%), Schweiz am Sonntag, Ausgabe Nordwestschweiz (+162%), NZZaS (+129%), Tages-Anzeiger (+117%), Landbote (+108%) und Schweiz am Sonntag, gesamte Ausgabe (+106%).

Allerdings gibt es auch drei Titel, die bei der digitalen Verbreitung Verluste hinnehmen müssen: So weist La Regione Ticino einen Rückgang um 21% aus, bei der Südostschweiz sind es 1% und beim Le Matin 0,3% (was durchschnittlich zwei Exemplaren entspricht). Ferner lassen drei Bezahl-Zeitungen keine digitale Auflage beglaubigen: Blick, Sonntags- Blick und TagesWoche.

Gratis-E-Paper: Fast alle folgen der «Alten Tante»

Fast alle Titel, die die digitale Auflage beglaubigen lassen, haben deren Gratisanteil gegenüber Vorjahr stark ausgebaut. An der Spitze steht wiederum die NLZ, die 2013 noch 21 Gratis-Replicas abgab, unterdessen sind es 2468, also 95-mal mehr. Die ZaS nützt diesen Kanal 66-mal stärker als vor einem Jahr, das SGT 22-mal mehr. Danach folgen die Schaffhauser Nachrichten (9× mehr), die NZZaS (4×), der Tages-Anzeiger und der Zürcher Unterländer (je 3×) und die NZZ und der Landbote (je 2½×). Einige Zeitungen, die letztes Jahr noch keine Gratis-E-Paper abgaben, sind nun ebenfalls auf diese Marketingmethode aufgesprungen, so BaZ, Nordwestschweiz, Berner Zeitung, Bund und Ostschweiz am Sonntag. Walliser-Bote und Freiburger Nachrichten verzichten hingegen weiterhin auf die Abgabe von Gratis-E-Papers.

Wie schon am Beispiel NZZ gezeigt, enthält die aktuelle digitale Auflage deshalb fast überall einen sehr grossen Anteil Gratis- oder Günstigst-E-Paper (siehe obere Grafik S. 24). Bei der NLZ ist der Gratisanteil am höchsten – er beträgt mittlerweile 80%. Die ZaS, La Regione Ticino und Schaffhauser Nachrichten kommen auf je 79% Gratis-E-Papers, Le Quotidien Jurassien auf eine Anteil von 76%, die Südostschweiz auf 65%, Le Matin semaine auf 64% und der Corriere del Ticino auf 62%. Die NZZ-Titel und ihre Gratisanteile folgen erst auf den Rängen 11 (NZZaS, 56%) und 14 (NZZ, 47%).

Replica-Verkäufe nehmen weniger stark zu

Doch nicht nur die Gratis-Replicas, auch die bezahlten Digital-Abos haben innert Jahresfrist zugenommen. So konnte das SGT seine bezahlten E-Papers um 853 Stück oder 220% steigern, der Zürcher Unterländer um 127 Exemplare oder 186%, die Schweiz am Sonntag, Ausgabe Nordwestschweiz, gewann 809 zahlende Abonnenten hinzu (+178%), die NLZ 295 Abos (146%), Le Matin Dimanche 587 Exemplare (135%) und der Tages-Anzeiger konnte dank oder trotz der im Frühling eingeführten Paywall 1397 zahlende Abonnenten gewinnen und somit ihre Zahl mehr als verdoppeln (111%). NZZaS und NZZ folgen hier auf den Plätzen 17 und 18 mit Zunahmen von 53% und 46%.

Die wichtigste Frage aber lautet, ob es Bezahlzeitungen gibt, die ihre Verluste bei den Print-Abos mit neuen bezahlten Digitalabos wettmachen können. Die Antwort ist klar nein. Aber die Unterschiede sind gross. Am erfolgreichsten kompensieren kann La Liberté, die 596 Printabos verliert und 386 bezahlte EPaper- Abonnenten gewinnt. Die E-Paper-Abos substituieren somit den Printabo-Verlust zu 65% (siehe untere Grafik S. 24). Würde man hier allerdings noch die Verluste beim Einzelverkauf einrechnen, wäre der Deckungsgrad etwas kleiner. Mit 59% der zweitbeste Kompensator ist L’Express, gefolgt vom L’Impartial mit 48%. Auf den Plätzen 4 und 6 folgen NZZ (47%) und NZZaS (42%), dazwischen liegt La Regione Ticino mit 45%. Den geringsten Kompensationserfolg haben der Zürcher Oberländer (2%) sowie die BaZ und Le Quotidien Jurassien (je 3%).

Onlinenutzerzahlen bestätigen E-Paper-Trend

Die Tatsache, dass jetzt immer mehr Verlage Gratis- E-Paper auf den Markt werfen, spiegelt sich teilweise auch in den Nutzerzahlen von NET-Metrix-Audit wider. Ob Unique Clients, Visits oder Pages Impressions – die Zeitungen verzeichnen steigende Zugriffe. Selbstverständlich gibt es auch Ausnahmen: So war beim Tages-Anzeiger seit der Einführung der Paywall im März ein deutlicher Traffic-Rückgang festzustellen. Doch Vorsicht: Die Studie Total Audience von WEMF und NET-Metrix, die einmal jährlich die Nutzerschaft von Zeitungstiteln und ihrem digitalem Angebot überschneidungsfrei ausweist, bestätigt im Wesentlichen das, was sich auch bei den Auflagen zeigt: Die wenigsten Titel können ihre verlorenen Printleser durch Onlinenutzer substituieren. Die WEMF versucht hier aber den Nebel zu lichten. Um den Verlegern die Nutzung ihrer digitalen Angebote künftig detaillierter aufzuschlüsseln, wird sie in einem Jahr die Mach Basic mit Leserzahlen zu den E-Papers ergänzen. Und noch dieses Jahr soll eine Teststudie aufzeigen, über welche Geräte die digitalen Angebote der Zeitungen genutzt werden. Die Internetforschung NET-Metrix arbeitet parallel dazu an einer technischen Messlösung. Diese sollte nächstes Jahr stehen, heisst es dort.

Markus Knöpfli

Spezialfälle TagesWoche und BaZ

Anfang Jahr kam aus, dass die Tageswoche (TW) von ihrer verkauften Auflage (damals 26 358 Exemplare) rund die Hälfte an die Flughäfen Basel und Zürich lieferte und dort im Gegengeschäft gratis auflegen liess. Das war zwar regelkonform, aber intransparent. In der Folge strich die TW die «Flughafen-Abos», was sich jetzt auch in den neuen Auflagenzahlen widerspiegelt: Die verkaufte Auflage beträgt nur noch 5682 Exemplare, dafür stieg die Gratisauflage auf 18 164 Exemplare (plus fast 9000%!). Letztere wird neu zu Marketingzwecken wöchentlich an Haushalte in der Region Basel verteilt. Auch bei der Basler Zeitung (BaZ) enthielt die verkaufte Abo-Auflage täglich rund 1800 Flughafen- Exemplare, ebenfalls im Gegengeschäft. Gemäss Verlagsleiterin Sabine Galindo sind es neu 1700 Exemplare, die aber nicht mehr zu den Abos, sondern neu ebenfalls zur Gratisauflage gezählt werden. Ein Teil des Abo-Verlustes bei der BaZ (total hat sie 5626 Abos weniger) ist also auf diese Umlagerung zurückzuführen. Die WEMF hat übrigens entschieden, dass Gegengeschäfte bei der nächsten Beglaubigung im Sommer 2015 separat ausgewiesen werden müssen. mk
 

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