Rohstoff-Recherche oder DIY

Ausgerechnet über die wohl systemrelevanteste aller Schweizer Branchen weiss die Öffentlichkeit so gut wie nichts. Ein Erfahrungsbericht über so antriebs- wie ressourcenschwache Wirtschaftsjournalisten und den demokratierelevanten Rohstoff Recherche. Von Oliver Classen, Pressesprecher der entwicklungspolitischen Organisation Erklärung von Bern, zuvor Medienredaktor.

Mein Unwort des letzten Jahrzehnts stand bereits Ende 2007 fest. Umso schlimmer, dass es heute noch die Schlagzeilen beherrscht. Die Attribute «systemrelevant» und das neudeutsche Synonym «too big to fail» dienen in Parlamentsdebatten, Stammtischrunden und Redaktionskonferenzen weiter als rhetorische Nebelwerfer und argumentative Allzweckwaffen. Zum Glück stellen die Okkupisten von Wall Street bis Paradeplatz dieser Tage richtig: «Wenn etwas systemrelevant ist, dann wir Menschen.» Und auch die New York Times attestierte der kapitalismuskritischen Bewegung nicht zufällig, sie sei «too big to ignore».

Die Schweizer Grossbanken und der Finanzplatz werden von der Erklärung von Bern (EvB) schon seit über 20 Jahren beobachtet. Eine viel unmittelbarer und deshalb unbestritten «systemrelevant» wirkende Branche hatten aber auch wir als Schweizer «Corporate Watchdog» bis dato nur punktuell auf dem Radar: die hauptsächlich am Genfer- und am Zugersee residierenden Rohstoffkonzerne. Die notorisch diskreten Handelsgesellschaften und Minenbetreiber gerieten bloss dann kurz ins Fadenkreuz, wenn in Afrika gerade mal wieder eine Ölpipeline explodierte oder die Anwohner einer südamerikanischen Kohlemine brutal vertrieben wurden. Solche Skandale schafften es gelegentlich in die Randspalten der Zeitungen und regelmässig auf die Shortlist konzernkritischer Schmähpreise wie den Public Eye Awards.

Die globale Strukturen, Schweizer Hauptsitze und häufig gesetzliche Grauzonen ausnutzenden Geschäftsstrategien von Glencore, Vitol, Trafigura & Co hingegen blieben – publizistisch und damit auch politisch – eine brisante Blackbox. Dass ausgerechnet jene inzwischen umsatzstärksten Schweizer Unternehmen, die die Weltwirtschaft mit ihren Lebenssäften Energie, Metallen und Agrargütern versorgen, medial kaum stattfinden, wirft ein grelles Licht auf die Gesetze der aktuellen Medien- und Aufmerksamkeitsökonomie. Die von den Firmen bewusst geschaffene Kombination von mangelnder CEO-Prominenz und hyperkomplexen Gebilden wirkt auf den Schweizer Wirtschaftsjournalismus lähmend statt anspornend. Entschuldigt wird das konzertierte Schweigen branchenintern zumeist mit fehlenden Recherche-Ressourcen und (daraus resultierender) Dossier-Unkenntnis.

Wenn es für Kurt Imhofs These vom demokratiegefährdenden Einfluss von Konzern-PR auf den Journalismus noch Belege bräuchte, die Nicht-Berichterstattung über die Rohstoffbranche liefert sie. Freilich mit umgekehrten Vorzeichen: Unternehmerische Intransparenz und Kommunikationsverweigerung produzieren publizistische Ignoranz und Diskretion. Die EvB identifizierte dieses Informationsvakuum schon vor Jahren, bekam aber erst 2008 mit einem Legat die Mittel in die Hand, um Abhilfe zu schaffen. Und zwar gleich gründlich, nämlich in Buchform. Um die eigene Kampagnen-Crew nicht zu blockieren, wurde das Projekt outgesourct – an einen renommierten Wirtschaftsjournalisten, der schon zum Thema gearbeitet hatte. Das Ergebnis war allerdings unbrauchbar, sodass wir doch selber in die Hosen steigen mussten.

Die Grunderkenntnis unseres internen Fünfer- Teams kam schnell: Geschichte, Struktur und Funktionsweise der Rohstoffdrehscheibe Schweiz lassen sich durchaus recherchieren. In holländischen Handelsregistern, luxemburgischen Börsennotizen und anderen Wirtschaftsdatenbanken schlummern viele hintergründige Hinweise über die Aktivitäten der Hauptakteure. Diese Puzzleteile, ergänzt durch wenige, aber wertvolle Branchenkontakte, liessen sich zu einem über 400-seitigen Gesamtbild fügen, das derzeit auf vielen Redaktionen gelesen wird.

Darauf lassen zumindest die Anzahl angeforderter Rezensionsexemplare und das erste mediale Echo schliessen. Dabei kann «Rohstoff: das gefährlichste Geschäft der Schweiz» die Info-Lücke über diesen immer wichtigeren Wirtschaftssektor natürlich nicht schliessen, umreisst aber wenigstens erstmals dessen Dimension und Risiken. Und spornt hoffentlich viele Kolleginnen und Kollegen zur überfälligen Beschäftigung damit an. Entschuldigungen gibt es jetzt jedenfalls keine mehr.
 

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