«Homo discens»

Die Digitalisierung und ihre Auswirkungen halten derzeit unzählige Menschen sowie ganze Branchen auf Trab. Viele sind überzeugt, dass die Menschheit noch nie mit solch fundamentalen Veränderungen konfrontiert war. Dabei wird vergessen: Der Eindruck täuscht, und der Mensch kann damit umgehen, auch wenn er den Wandel nicht liebt.

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Die Digitalisierung sorgt in zahlreichen Branchen und bei vielen Menschen für Verunsicherung. Die Zeiten seien heute extrem volatil, die vierte industrielle Revolution schmeisse alles über den Haufen, bald seien nur noch Roboter gefragt – solchen Schreckgespenstern begegnet man überall. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und liebt nun mal keine grossen Veränderungsprozesse – obwohl er diesen immer wieder ausgesetzt ist und ihnen auch in Zukunft nicht entkommen wird. War es je zum Schaden der Menschheit? Im Nachhinein verdammt wohl niemand die grossen Veränderungen: den aufrechten Gang, die Nutzbarmachung des Feuers, die Erfindung der Sprache oder des Rades; all diese Neuerungen haben die Entwicklung des Menschen vorangetrieben.

Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hielt fest: «Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.» Anstatt sich von einer diffusen Angst leiten zu lassen, lohnt es sich, zurückzublicken. Unsichere Zeiten und Wandel, Disruption und Krisen gab es bereits früher – und dies nicht zu knapp. Für den Blick zurück muss man in den Geschichtsbüchern auch keine Jahrhunderte zurückblättern, dafür reichen rund 135 Jahre.

Der Einsatz der Elektrizität ab den 1880er-Jahren hat das Leben der Menschen damals nicht minder beeinflusst wie die Digitalisierung heute. Die Elektrizität ermöglichte eine nie zuvor dagewesene Mobilität durch elektrische Trams, etwas später kamen in dieser Zeit auch noch motorbetriebene Flugzeuge und Autos dazu; elektrische Leitungen führten zur Telefonie und damit zu einer revolutionären neuen Art der Kommunikation – räumliche und zeitliche Distanzen verkürzten sich radikal, wurden regelrecht pulverisiert. Wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, was dies für die Menschen damals bedeutet hatte.

Mit dem Strom hielten Gerätschaften wie beispielsweise elektrische Heizungen oder Waschmaschinen Einzug in die Wohnungen und erlösten die Hausfrauen von so manch einer zeitraubenden Haushaltstätigkeit – und die Elektrizität brachte natürlich das Licht. In der Schweiz, dies sei noch vermerkt, übernahm St. Moritz eine Vorreiterrolle – im heutigen Bündner Nobelkurort erstrahlte das erste elektrische Licht. Der Hotelpionier Johannes Badrutt baute oberhalb seines Kulms die erste Elektrizitätsanlage der Schweiz und beleuchtete damit den Speisesaal des Hotels – damals eine Sensation.

Die Einführung der Elektrizität veränderte in der Zeit zwischen 1885 und 1925 sehr viel, auch radikal. Aus heutiger Sicht ist es kaum nachvollziehbar, dass die Menschen zu Beginn dem «Teufelszeug Strom» sehr skeptisch und ablehnend gegenüberstanden. Diese Errungenschaften, die Mobilität, die Wohnungsausstattung mit allerlei elektrischen Geräten, die Kommunikationsmittel en masse nutzen wir heute ganz selbstverständlich, ohne sie grundsätzlich infrage zu stellen oder uns gar davor zu fürchten. Aber auch damals kamen, wie heute, ganze Geschäftszweige unter Druck, wurden in Nischen gedrängt oder starben gar aus. Die Digitalisierung wird – wie das Feuer, das Rad oder die Elektrizität – unser Leben nachhaltig beeinflussen und verändern. Gut möglich, dass auch wir in 100 Jahren wegen unserer Sorgen und Ängste vor der vierten industriellen Revolution belächelt werden.

Mit der Digitalisierung Schritt zu halten, mag im Moment noch anstrengend sein. Kein Wandel ohne Krise, auch dies gehört zu einem Veränderungsprozess. Was heute richtig ist, kann morgen bereits überholt sein. Erlerntes zu vergessen sei deshalb in der heutigen Zeit eine sehr wichtige Eigenschaft, ist in Fachbüchern zu Veränderungsprozessen zu lesen. Abschiednehmen von Veraltetem und Hinderlichem ist gut. In Bezug auf die Medienbranche hat das Geschäftsmodell der Zeitung ausgedient, dieses muss man vergessen. Tröstlich ist aber: Die Menschen lieben Geschichten, wollen informiert und unterhalten werden; dies wird bleiben. Wie daraus ein funktionierendes Geschäftsmodell kreiert werden kann, müssen wir noch lernen.

Und vergessen wir eines nicht: Wie die Elektrizität ist auch die Digitalisierung von Menschenhand initiiert und gesteuert. Und wenn die Geschichte der Menschheit etwas bewiesen hat, ist es, dass wir ein «homo discens» sind, ein lernender Mensch. Und die Fähigkeit zur Anpassung gehört, glücklicherweise, zu unserer Grundausstattung.

Martina Fehr ist seit September 2015 Chefredaktorin der Zeitung Südostschweiz und seit Oktober 2016 für die Leitung der Medienfamilie Südostschweiz verantwortlich. Die 42-jährige Bündnerin trat vor rund 20 Jahren in das Medienunternehmen Somedia ein. Die Südostschweiz gehört mit 159 000 Leserinnen und Lesern zu den grossen Schweizer Tageszeitungen. Sie ist die reichweitenstärkste Zeitung vom Engadin bis an den Zürichsee. Verleger der Südostschweiz ist Hanspeter Lebrument mit dem Churer Verlagshaus Somedia.

Diese «Medienmeinung»-Kolumne wurde bereits in der Werbewoche 15/2017 publiziert.

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